»Serienmord als ästhetisches Phänomen«

Interdisziplinäre Tagung in Bonn

Vorträge

Referent: Dr. Roland Seim, MA

Titel: Zur Zensurgeschichte des Serienmörderfilms in Deutschland - Der Fall „Texas Chainsaw Massacre“

Abstract: Während Glück, Freude und Harmonie in der Kulturgeschichte selten den Stoff für spannende Geschichten liefern, besitzen Serial Killer - ähnlich wie Amokläufer und Terroristen - nicht nur in der Medienberichterstattung, sondern auch im Spielfilm eine schillernde Faszination. Da die negativen Seiten, die Gewalt, das Böse, die Finsternis, die Tragik, das Leid und die Verbrechen einen so starken Reiz ausüben, erstaunt es nicht, dass Serienmörder vor allem in den USA beinahe als Popstars gelten. Es gibt unzählige Bücher und Filme, ja sogar Sammelkarten zu Ted Bundy, Jeffrey Dahmer oder John Wayne Gacey.

So liegt es nahe, wenn ihre monströsen Taten verfilmt werden, um dem Zuschauer einen gruseligen Schauer über den Rücken zu jagen, zumal wenn der Horror auf wahren Tatsachen beruht. Frühe und mutige Versuche, Serienmörder auf die Leinwand zu bannen, stellen etwa Hitchcocks FRENZY und PEEPING TOM mit Karl-Heinz Böhm dar, dessen Filmkarriere mit dieser verstörenden Rolle allerdings beendet war. Während durch Blockbuster wie DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER und HANNIBAL mittlerweile Gewaltdarstellungen auch in der Mainstream-Popkultur ein mehr oder weniger anerkanntes Stilmittel darstellen, dessen vorläufiger Endpunkt physisches Körperkino wie HOSTEL bildet, so sah das zu Beginn der Horrorwelle Ende der 70er Jahre und Anfang der 80er - befördert durch das neue Massenmedium Video - noch ganz anders aus.

Undergroundstreifen wie THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (TCM) von Tobe Hooper genossen nur in Fankreisen einen schillernden Ruf. Jugendschützer und Staatsanwälte hingegen liefen Sturm gegen das „Schmuddelmedium“ Video und seine Horrorzombieschlitzerfilme. Folgerichtigerweise kam TCM aka DAS KETTENSÄGEN-MASSAKER 1982 auf den Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und wurde 1985 vom Landgericht München I wegen Verstoes gegen StGB § 131a (Gewaltverherrlichung) beschlagnahmt. Ähnlich erging es der Fortsetzung TCM 2 mit Dennis Hopper. Während MGM/UA die US-Fassung in den Niederlanden mit der (höchsten Freigabe) „ab 16“ ungehindert auf den Markt brachte, fand sich kein deutscher Verleih, der sich traute, den Film als Video oder DVD zu vermarkten. Das zeugt von einer durchaus realistischen Weitsicht, beschlagnahmte doch das Amtsgericht München 1990 den Kinofilm in der Originalfassung. Das Werkstattkino wurde vom Landgericht München 1994 wegen Gewaltdarstellung zu 60 Tagessätzen verurteilt. Das AG Tiergarten verbot 1996 und 1999 Laser-Discs sowohl in der US-Version als auch mit japanischen Untertiteln.

Durch die Novellierung des Jugenschutzrechtes 2003 kann die BPjM keine Medienobjekte mehr indizieren, die eine Altersfreigabe von der FSK erhalten haben. Zwar dürfen indizierte oder verbotenen Filme nicht ungeschnitten im Fernsehen laufen, „ab 18“ freigegebene nach 23 Uhr hingegen schon. Und so kam es, dass das Remake MICHAEL BAY’S THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE am 14.10.2007 ungekürzt auf Pro7 zu sehen war.

Dauer: ca. 45 Minuten

Beginn: 14:00 Uhr

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Referent: Dr. habil. Marcus Stiglegger

Titel: Der dunkle Souverän - Die Faszination des allmächtigen Serialkillers im zeitgenössischen Thriller und Horrorfilm

Abstract: Das Böse zieht seine finstere Spur durch das Kino von dessen Beginn an. Inkarnationen des Bösen, wie sie die Gothic fiction und die schwarze Romantik (nach Mario Praz) vorgedacht hatten, tauchten bereits in den frühen Biograph Filmen von David Wark Griffith auf, sei es als männlicher Gothic Villain oder dessen weibliches Gegenstück, der Vamp oder die Femme fatale. Deren Weg zog sich durch Klassiker wie Metropolis und Alraune, durch den Universal Horrorfilm ebenso wie sogar durch den Nazi-Propagandafilm und natürlich den Film noir.

Gemeinsam ist jenen Verkörperungen des Bösen, die ich als dunkle Souveräne bezeichnen möchte, eine funkelnde Verführungskraft, eine sinnliche Herausforderung an die positiven Protagonisten, die nicht nur aus der äußerlichen Attraktivität erklärbar wird, aus der Kultiviertheit, sondern auch aus der Selbstermächtigung des Souveräns, der nach eigenen, selbsterklärten Gesetzen lebt. Der – weibliche oder männliche – Souverän erhebt sich selbst zur maßgebenden Instanz, fordert Moral und Ethik heraus und definiert sich geradezu aus der Überschreitung der gesellschaftlichen Grenzen. Der dunkle Souverän ist ein amoralisches Wesen, ja mehr noch: Er transzendiert die Moral und setzt sich selbst an deren Stelle. Diese souveräne Selbstermächtung birgt einen Moment der Verführung und Verheißung, die zum Prüfstein der Integrität von Protagonist und Zuschauer gleichermaßen wird.

Und gerade in den letzten Jahren taucht der dunkle Souverän wieder verstärkt als Antiheld des kommerziellen Kinos auf. Und von je her lautet die Herausforderung, nicht selbst der dunklen Seite zu erliegen: „[…] wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“, schreibt Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse. Die seduktive Strategie des dunklen Souveräns im Film liegt darin, den Zuschauer mit seinem eigenen Abgrund vertraut zu machen. Eine Verführung durch das „Böse“ oder den Bösen ist in diesem Sinne also zugleich die Verführung zum „Bösen“ – die Verführung zur Umwertung der moralischen Werte, die Einladung zur Identifikation mit dem Bösen.

Dauer: ca. 45 Minuten

Beginn: 10:30 Uhr

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Referent: Dr. Joachim Linder

Titel: Die Fiktionalität des Verbrechens (Arbeitstitel)

Abstract: Verbrechen entsteht als Ergebnis semiotischer Prozesse, mit denen einer ‘Tat’ die Bedeutungen zugeschrieben werden, die sie zum ’sozialen Ereignis’ machen. Wirksam werden diese Bedeutungszuschreibungen erst in der medialen Repräsentation, und zwar grundsätzlich als narrative Re-Konstruktionen und Re-Enactments. Diese sind nicht allein juristisch determiniert, sondern z. B. auch medizinisch, ökonomisch, moralisch, religiös usw. Den diskursiven Interferenzen bietet schon das Medium Strafverfahren Raum, doch sie ziehen sich in je spezifischer Kombination durch alle Medien, die sich mit Verbrechen im Hinblick auf Selbstbeschreibung und Stabilisierung einer Gesellschaft befassen.

In der Repräsentation wird die Tat als vorausliegende an ihrem Ort und zu ihrer Zeit konstituiert. Vor diesem Hintergrund ist klar, daß Darstellungen des Verbrechens nicht entweder im faktischen oder im fiktionalen Bereich operieren, sondern stets auf der Grenze zwischen Faktizität und Fiktionalität. Die Zurechnungen zum einen oder anderen Bereich sind den Genre- bzw. den Formatkonventionen geschuldet, zu denen sich mein Beitrag querstellen wird.

Ich werde Perspektiven aus dem Sammelband Verbrechen — Justiz — Medien (Tübingen 1999, insbes. aus den Kapiteln von Greiner, Linder/Ort und Lindner) aufnehmen und exemplarisch überprüfen. Dazu sind im Augenblick die beiden Bestseller-Roman von Andrea Maria Schenkel vorgesehen (”Tannöd. Kriminalroman”, 2006, “Kalteis”, 2007), die beide als
Fiktionalisierungen historischer Kriminalfälle auftreten und sich damit in eine breite kriminalliterarische Tradition einfügen. Darüber hinaus sind die Romane Beispiele dafür, wie literarische Verbrechensdarstellungen ‘gespeicherte’ Darstellungs- und Deutungsmuster rekombinieren und revitalisieren, und zwar speziell im Hinblick auf Serienmord und multiple Tötungen. Nach Möglichkeit sollen auch die audiovisuellen Bearbeitungen der beiden Texte berücksichtigt werden (Hörbuch, Hörspiel, TV-Verfilmungen) sowie das Plagiatsverfahren, das gegen “Tannöd” läuft und den Text selbst zum “Sachverhalt” einer strafbaren/unerlaubten Handlung macht (im Sinne der §§ 106 ff. UrhG).

Dauer: ca. 45 Minuten

Beginn: 15:15 Uhr

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Autor: Jörg Buttgereit

Titel: Schramm – Filmscreening und Podiumsdiskussion

Abstract: Jörg Buttgereits Serienmörderfilm Schramm aus dem Jahre 1993 stellt bislang den Endpunkt der 12-jährigen Auorenfilmer-Tätigkeit des Berliner Regissseurs dar. Als sein vierter Langfilm unternimmt Schramm den Versuch das Soziogramm eines Serienmörders zu zeichnen und verwendet hierzu ästhetisch elaborierte Techniken der Bild- und Tongestaltung. Der Film steht als Serienmörderfilm solitär im deutschsprachigen Kino jener Zeit und bildet einen scharfen Kontrast zu den zeitgenössischen us-amerikanischen Produktionen, die die Täterfigur des Serienmörders im Kino hoffähig zu machen versuchten.

Der Film wird in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt, der im Anschluss an einer Podiumsdikussion mit Zuschauerbeteiligung Fragen zur Produktion, Ästhetik und Rezeption seines Films zu beantworten versucht.

Dauer: 66 Minuten + ca. 45 Minuten

Beginn: 20:00 Uhr

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Referent: Dr. Arno Meteling

Titel: Bibliotheken der Gewalt. Vor-Schreiben und Nach-Lesen in David Finchers Se7en

Abstract: „Dienstag abend ordne ich meine Plattensammlung neu.“ (High Fidelity, S. 61). In der Popkultur wird zunehmend das Verlangen nach Reihung und Ordnung, kurz: nach Archivierung, laut. Formuliert wird das in Popliteratur und im Erzählkino über eine Logik der Liste. Parallel dazu ist eine Tendenz in Wissenschaft und Kultur spürbar, sich der eigenen Bestände zu versichern und sich dem Jüngstvergangenen archäologisch zu nähern. Beide Entwicklungen finden auf bizarre Weise in der Figur des Serial Killers ihren literarischen und filmischen Protagonisten. Abseits von der Figur des „Lustmörders“ oder der „Kreatur“ erhebt der „postmoderne“ Serial Killer die Liste selbst zum Kunstwerk. David Finchers Film Se7en (1995) handelt von diesem Kunstwerk und nähert sich ihm über die Kulturtechniken des Schreibens, des Lesens und des Serienmordens. Ein Phantasma vom Archiv Alteuropas wird in Se7en als Bibliothek der Gewalt interpretiert, das dem Mörder als Blaupause für seine Mordinstallationen der sieben Todsünden dient. Dieser Art von Konzeptkunst kann die detektivische Hermeneutik der Spurensicherung nicht mehr beikommen, denn sie liest nur das nach, was der Täter vorgeschrieben hat.

Dauer: ca. 45 Minuten

Beginn: 16:30 Uhr

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Referent: Manfred Riepe

Titel: Sichtung. Tötung. Wiederholung. Der Serientäter und sein unmögliches Projekt am Beispiel von Michael Powells “Peeping Tom”

Abstract: Michael Powells Thriller „Peeping Tom“ von 1959 zählt zu den am meisten interpretierten Filmen. Diese Faszination rührt zum Teil daher, dass der Film uns den Prototypen eines „Lustmörders“ vorstellt: Mark Lewis tötet Frauen, weil er ihren entsetzen Blick im Moment des Todes sehen – und sogar auf Zelluloid bannen – will. Obwohl er hierfür eine komplizierte Apparatur aus Kamera, Stilett und Hohlspiegel zur Anwendung bringt, ist Marks „Projekt“ zum Scheitern verurteilt: Um vielleicht doch noch ein befriedigendes Resultat zu erzielen, muss Mark weiter töten. Immer wieder. Das Gesetz der (Endlos-)Serie entspringt so aus der Logik seines Scheiterns: Sichten, Töten, Wiederholen. Die diesem Serienphänomen innewohnende Logik soll vor dem Hintergrund der strukuralen Psychoanalyse Jacques Lacans erhellt werden (Vorkenntnisse sind nicht erforderlich). Besonderes Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage: Was genau will Mark Lewis in den Augen seiner Opfer sehen? Und was hat das mit dem Thema Voyeurismus im Kino zu tun?

Dauer: 45 Minuten

Beginn: 11:45 Uhr

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